Anlässlich des Hochschultages am 28. November 2022 wurde Andressa Baierle Baldissera der Fritz-Leonhard-Reuther-Preis für ihren Bachelor im Studiengang Soziale Arbeit verliehen. Im Interview verrät uns die Preisträgerin, worin es in ihrer Arbeit geht und was sie für die Zukunft plant.

FLR-Preisträgerin Andressa Baierle Baldissera
Wie hat Sie die Nachricht erreicht, dass Sie Preisträgerin des Fritz-Leonhard-Reuther-Preises sind? Und was haben Sie zuerst gedacht, als Sie erfahren haben, dass Sie Jahrgangsbeste der HS Mannheim sind?

Ich war im Zug, bin am Ende des Tages nach Hause gefahren, als ich mein E-Mail-Postfach von der Hochschule aufmachte und die Nachricht las. Was das bedeutete, habe ich nicht sofort begriffen und als ich das begriffen habe, dachte ich, vielleicht sei jemandem ein Fehler unterlaufen. Ich habe geprüft, ob die E-Mail nur an mich adressiert war, ob mein Name angesprochen war. Es war wirklich mein Name – und ich verblüfft.

Was bedeutet diese Auszeichnung für Sie?

Für mich bedeutet sie eine große Ermutigung weiterzumachen. Das klingt zwar nach einer Floskel, ist es aber nicht: Da ich schon davor ein langes Studium absolvierte, war die Entscheidung, jetzt noch einen Master zu machen nicht selbstverständlich. Die Auszeichnung lässt mich weiter hoffen, dass das eine gute Entscheidung war und bietet mir etwas mehr finanzielle Unabhängigkeit für die Zeit des Studiums. Darüber hinaus ist diese Auszeichnung vielleicht auch eine Chance, andere Menschen zu ermutigen, die wie ich in Deutschland erst eine Heimat finden wollen (oder müssen) und nebenher studieren.

Worum ging es in Ihrer Bachelorarbeit und wieso haben Sie sich genau mit diesem Thema beschäftigt?

In meiner Bachelorarbeit habe ich über „Hikikomori“ geschrieben, ein Phänomen, das zuerst in Japan beschrieben wurde, aber nach und nach auch in anderen Ländern Aufmerksamkeit weckt. Es gibt dafür keine einheitliche Definition, aber relativ einstimmig ist die Auffassung, dass es sich um Hikikomori handelt, wenn jemand sich für einen längeren Zeitraum (in Japan mind. sechs Monate) sozial zurückzieht, ohne dass dieser Rückzug durch psychische Störungen verursacht wird.

In der Arbeit habe ich versucht, in einem ersten Schritt den Stand der Forschung und den Diskurs über das Thema in Japan darzustellen und in einem zweiten Schritt Einschätzungen über das Thema in Deutschland zu ergründen, v. a. im Hinblick darauf, ob Hikikomori auch in Deutschland vorkommt und welche Rolle der Sozialen Arbeit diesbezüglich zukommt.

Rund um das Thema gibt es wenig, was nicht umstritten wäre, aber in der Regel wird bei Hikikomori davon ausgegangen, dass Menschen sich mindestens im ersten Moment selbst für die Isolation entscheiden. Das wirft für mich die grundlegende Frage auf, warum sie das tun. Obwohl ich diese Frage in Rahmen der Bachelorarbeit nicht hätte beantworten können, hat sie mich für die Behandlung des Themas motiviert. Ich denke, die Antwort darauf könnte eine Chance für Veränderungen in der Art, wie wir zusammenleben, sein. Das Thema hallt in meinem Kopf tatsächlich weiter. Inzwischen ist mir klar geworden, dass die verschiedenen Diskurse über Hikikomori, wie so häufig, auch viel über die Ansichten der Sprechenden aussagen. Wenn ich meine eigene Arbeit jetzt überfliege und in die Metareflexion gehe, hinterfrage ich einiges, das ich „damals“ geschrieben habe. Lange Worte, kurzer Sinn: Ich finde das Thema so spannend, weil es ein erhebliches Potenzial zur Kritik und Reflexion birgt.

Wie fiel eigentlich die Entscheidung für ein Studium der Sozialen Arbeit?

Vor Sozialer Arbeit habe ich in Brasilien Jura studiert und ein lang ersehntes Austauschprogramm in Heidelberg gemacht. Da, wie es so schön heißt, hab‘ ich mein Herz verloren. Zurück in Brasilien habe ich weiter studiert und Pläne geschmiedet, was ich in Deutschland beruflich tun könnte. Fest stand: Mein Studium wird in Deutschland nicht vollumfänglich anerkannt und mit den Möglichkeiten, die es mir in Deutschland bietet, war ich nicht zufrieden. So habe ich mich eingelesen, was man alles in Deutschland (dual) studieren könnte. An dem Tag meiner Abschlussfeier habe ich eine Liste gemacht mit Sachen, die ich gut kann, die mich interessieren und mir wichtig sind. Am Ende stellte ich fest, dass Soziale Arbeit hervorragend dazu passte. In den Wochen danach habe ich weiter recherchiert und in Gedanken mit verschiedenen Möglichkeiten gespielt, kam aber immer wieder auf Soziale Arbeit zurück.

Welche beruflichen Ziele hatten Sie vor Ihrem Studium? Haben sich Ihre Ziele während des Studiums geändert?

Vor dem Studium dachte ich vor allem an Familienhilfe und Schulsozialarbeit. Inzwischen habe ich eine offenere Einstellung dazu.

Ich denke, die konkreten Stellen sagen mehr aus als das Arbeitsfeld an sich, da man in einem gleichen Arbeitsfeld verschiedene Erfahrungen haben kann, je nach Rahmenbedingungen. Dazu schließe ich eine wissenschaftliche Laufbahn inzwischen nicht aus. Daran hatte ich am Anfang des Bachelors gar nicht gedacht.

Wie ging es bei Ihnen nach dem Bachelorabschluss weiter und was machen Sie aktuell? Was sind Ihre Ziele für die nächsten Jahre?

Nach dem Bachelorabschluss habe ich erstmal meine Familie und Freund*innen in Brasilien besucht und mich für den Master beworben.

Inzwischen studiere ich weiter an der Hochschule Mannheim. Nebenher arbeite ich, bin ehrenamtlich tätig und tue das, was Menschen im Alltag meistens so tun. Zwei Ziele sind, den Master zu absolvieren und mich im Anschluss für einen Weg zu entscheiden, der mit mir kongruent ist. Wenn ich irgendwie dazu beitragen könnte, dass Menschen glücklicher leben, wäre das super. Näher kann ich das aber noch nicht konkretisieren.

Welche Erinnerungen haben Sie an Ihre Studienzeit?

Mir fallen keine besonders repräsentativen Erinnerungen an das Studium ein. Aber zwei sind wohl der Erwähnung würdig. Zum einen ist mir die erste Woche gut in Erinnerung: Ich war gespannt, meine Kommiliton*innen kennenzulernen, fragte mich, ob ich mich in der Gruppe einfinden würde, ob ich ein Studium auf Deutsch meistern könnte. Dazu habe ich in der Woche geheiratet und bekam Besuch meiner Eltern, die ich seit einem halben Jahr nicht gesehen hatte. Das war eine spannende Zeit und der Anfang der ersten „Phase“ des Bachelors.

Zum zweiten kann ich mich daran erinnern, als ich die Nachricht bekam, dass die Hochschule wegen der Pandemie geschlossen werden würde. Ich war eigentlich im Praxissemester, daher selten vor Ort. Als die Schließung kommuniziert wurde, war ich aber tatsächlich in der Fakultät. Das kam mir surreal vor, und damals dachte ich noch, die Schließung würde maximal einen Monat andauern. Monate später fragte ich mich dann schon, ob ich jemals vor dem Abschluss wieder Präsenzvorlesungen haben würde. Das war wieder eine spannende Zeit und der Anfang der zweiten „Phase“ des Bachelors.

Gibt es etwas, das Sie den Ihnen nachfolgenden Studenten an der Hochschule Mannheim mit auf dem Weg geben möchten? Ein Tipp wie man Fritz-Leonhard-Reuther-Preisträgerin wird zum Beispiel?

Es wäre wohl naiv von mir zu sagen, man muss nur dies oder jenes tun und dann würde man Preisträger*in werden. Ich denke, Vieles hängt nicht von den einzelnen Studierenden ab, sondern auch von Faktoren, die sie nicht immer beeinflussen können. Hier sind zunächst Entscheidungsträger*innen u. a. der Hochschule in der Verantwortung, Nachteile auszugleichen, da sozioökonomische Hintergründe eine erhebliche Rolle spielen, wenn es um Bildungserfolg geht. Was Studierende meiner Meinung nach tun können, ist neugierig und kritisch zu bleiben, auch sich selbst gegenüber. Letztendlich kann man nicht mehr als sein Bestes geben, wobei dieses „Beste“ sich ständig mit den Gegebenheiten ändert. Das ist auch in Ordnung so, wir sind keine Maschinen.

Wissen Sie schon, was Sie mit dem Preisgeld in Höhe von 2.500 € machen werden?

Hauptsächlich den Master mitfinanzieren. Ansonsten mal Pizza essen gehen und ein paar Angelegenheiten fördern, die mir besonders wichtig sind.

Wir bedanken uns herzlich bei Andressa Baierle Baldissera für die ausführliche Beantwortung unserer Fragen und wünschen ihr weiterhin alles Gute und viel Erfolg.


Zum Fritz-Leonhard-Reuther-Preis

Mit der Verleihung des Fritz-Leonhard-Reuther-Preises fördert der Verein der Freunde der Hochschule Mannheim den wissenschaftlichen Nachwuchs und zeichnet hochschulweit die beste Absolventin bzw. den besten Absolventen eines Studienjahres aus. Die mit 2.500 € dotierte Auszeichnung wird bereits seit 1978 vergeben und ist damit der älteste Preis an der Hochschule Mannheim.

Fritz Leonhard Reuther, geboren 1909 in Mannheim-Waldhof, war der erste Präsident des Vereins der Freunde der Hochschule Mannheim, der 1958 gegründet wurde. Insgesamt 20 Jahre leitete Reuther die Geschicke der Fördergemeinschaft. Er war Geschäftsführer und Aufsichtsratsvorsitzender in der von seinem Großvater gegründeten Armaturen- und Messgerätefabrik „Bopp & Reuther GmbH“. Fritz Leonhard Reuther wurde am 14.02.1979 zum ersten Ehrensenator der Hochschule ernannt. Er starb 1983.